Von der Gründung eines Wespenstaates

Ob es wohl überhaupt ein zweites Geschöpf auf dieser Erde gibt, das so fleißig und so ausdauernd einen gefaßten Plan durchführt? Das sich, wie Vespa, nicht eine einzige Ruhestunde gönnt und aus eigener Kraft ein solch gewaltiges Werk in wenigen Wochen voll­endet? Ich glaube, wir Menschen können es uns gar nicht so recht vorstellen, was dieses eine kleine Tier hier in der Stille vollbringt.

        Vor allen Dingen mußte die Erdhöhle erst einmal glatte und feste Wände erhalten. Krümchen um Krümchen riß Vespa von der Decke los und ließ sie in die Fortsetzung des Maulwurfsganges fallen, der dadurch nach unten zu verstopft wurde. Als eigener Sprengwagen und eigene Dampfwalze befeuchtete sie danach das Gewölbe und stampfte es mit den Beinen fest. Die herabhängenden Queckenwurzeln reinigte sie so gründlich, daß sie nunmehr sauberen Tauen glichen. In drei Tagen hatte sie diese Arbeit geschafft. Schön! Befriedigt lief sie noch einmal über das jetzt faustgroße Gewölbe und flog dann unverzüglich zur alten Pappel hinüber. Hier nagte sie die mürbe Rinde ab, riß in ihrem Eifer richtige kleine Splitter los und durchkaute und bespeichelte sie an Ort und Stelle. Mit dem Papierbreikügelchen ging es dann zum Loch zurück, wo sie die Masse an die Queckenwurzel pappste. Wohl zwanzigmal in der Stunde und über dreihundertmal am Tage flog Vespa zur Pappel und wieder zurück. Bald waren die Queckenwurzeln zu kräftigen und säulenartigen Hängeträgern verstärkt. Mit den Vorderbeinen trug sie den Baustoff geschickt auf und zog ihn rückwärtsschreitend mit den Kiefern aus. Dann wurde das erste Schuppenblatt der Mantelglocke an diesen Trägern aufgehängt. Zu einem ganz dünnen Band zog Vespa während dieser Arbeit den Papierbrei aus, denn die Glocke sollte aus vielen locker übereinanderliegenden Schuppen­blättern bestehen.

        Und so ging es nun Tag um Tag: Von der Höhle zur Pappel und von der Pappel zur Höhle, unaufhörlich und unermüdlich, bei jedem Wetter! Vespa hatte nichts anderes mehr im Kopfe als Nagen und Schaben, Durchkauen und Einspeicheln, Auftragen und Ausziehen. Nach vierzehn Tagen war die schützende Mantelglocke so weit gediehen, daß Vespa an den Bau der ersten Zellen gehen konnte. Fast im Hui waren diese kleinen Zellen errichtet und wiesen doch eine solche Genauigkeit auf, als ob Vespa über Winkelmaß, Wasser­waage und Lotblei verfügt hätte. Allerdings waren die Wände auch knisterdünn, und die Vorderwand der ersten Zelle war zugleich die Rückwand der zweiten Zelle, und jede Seitenwand diente wieder anderen Zellen als Seitenwand. Ganz deutlich zeigte sich, daß es keine sparsamere Bauweise als diese Sechseckform gab. Bereits Anfang Mai konnte Vespa die ersten Zellen mit ihren Eiern bestiften.

        Ein großes Stück Arbeit war geschafft. Der Grundstein zum neuen Wespenstaat war gelegt. Und auch hier war, wie überall, der Anfang die Hälfte des Ganzen. Vespa gönnte sich deswegen aber noch lange keine Erholungspause. Während die Schmetterlinge und die Fliegen den Tag vertändelten und die Maikäfer sonnenträge unter den Blättern hingen, werkte sie wie ein armer Arbeitssklave und polierte jetzt die Seitenwände der Höhle. Und als die ersten Larven aus den Eiern schlüpften, da wurde die Baumeisterin zur Jägerin und Kinderpflegerin. An die fünfzig Larven mußten mit Fliegenfleisch gefüttert werden! Wie eine reißende Tigerin stürzte sich Vespa auf die Fliegen und bereitete aus den Kopf- und Bruststücken einen leicht zu verfütternden Brei. Ob Schmeißfliege oder Goldfliege, Schlammfliege oder Dungfliege, Wadenstecher oder Rinderbremse, Trauerschweber oder Schweb­liege, sie waren alle zusammen nicht mehr vor Vespa sicher. Unaufhörlich gierten die Larven nach Atzung, und unermüdlich kreiste Vespa über den Blütenständen. Immer weiter mußte sie ihre Raubflüge ausdehnen, denn bald gab es keine Fliegen mehr im näheren Umkreis der Höhle. Da mußten dann die kleinen Mörtel- und Mauerbienen daran glauben. Und als sie ausgerottet waren, griff Vespa auch die größeren Honigbienen und Mohnbienen an. Selbst vor den Hummeln und den Artgenossen schreckte sie nicht zurück.

        Und oft geschah es, daß sie gar nicht so viel Gift erzeugen konnte, um ihrem Stich immer wieder die tödliche Wirkung zu verleihen. Dann mußte das Beutetier in erbittertem Ringen überwältigt werden. Da war es dann ein Glück, wenn die weidenden Kühe ihre Losung in der Nähe des Nestes fallen ließen und die Fliegen von weither auf diese Hinterlassenschaft zueilten. An solchen Glückstagen konnte Vespa sich wirklich ab und zu eine Minute verschnaufen.

        Ja, es war bald zu viel, was Vespa leisten mußte. Ihre Kräfte wurden bis aufs äußerste angespannt. Voller Ungeduld wartete sie darauf, daß sich die Larven nun endlich verpuppten. Aber auch während dieser Puppenruhe ihrer Kinder gönnte sich Vespa keine Pause, sondern arbeitete an neuen Zellen. Außerdem stellte sie die Tragesäulen her, an denen die erste Wabe an die zweite gehängt werden sollte. Und gerade diese Arbeit erforderte viel Verständnis. Denn da die Zellen alle nach unten geöffnet waren, durften diese Träger keine Zellenöffnung verdecken, sondern mußten längs der Zellenkanten in feinen Leisten auslaufen.

        Vier Wochen angespanntester Tätigkeit gingen so vorüber. Dann kam der große Tag, an dem die ersten Arbeitswespen aus ihren Zellen Portrait der Wespe, deutlich sind die kraeftigen Kiefer zu erkennenkrabbelten. Es waren kleine Tierchen, denn ihr Futter war doch etwas karg gewesen. Aber es schien, als ob sie ganz besonders den großen Fleiß Vespas geerbt hätten. Denn sie begannen sofort, ihre Zellen zu säubern und flogen unverzüglich davon, um Fliegen zu jagen, Holz zu schaben, Honig zu sammeln und dann die Fütterung der Larven zu übernehmen. Es war, als ob sie wüßten, wie sehr ihre Königin der Ruhe bedurfte, als ob sie ihr jetzt jegliche Arbeit abnehmen wollten. Ein eifriges Kommen und Gehen herrschte am Flugloch, und Entsetzen verbreitete sich rings um das erstehende Wespenreich unter allen Insekten. Denn jetzt war nicht nur ein getigerter Räuber auf der Jagd nach Opfern, jetzt waren es ihrer fünfzig und bald ihrer hundert summende Jäger, die über die Wiese kreisten.

        Ja, der Wespenstaat wuchs und wuchs. Vespa, die nur noch Eier zu legen brauchte, verließ das unterirdische Nest nicht mehr. Ihr Leib war eine unerschöpfliche Eierquelle. Die wenigen Wochen des vorjährigen Schweifens mit den Männchen hatten diese Quelle erschlossen, und erst mit Vespas Tod würde sie versiegen. Die Keime zu Tausenden und Zehntausenden zukünftigen Wespen trug Vespa, die getigerte Königin, in sich. Um alle diese Eier unterbringen zu können, war eine große Schar von Arbeiterinnen ununterbrochen mit dem Bau neuer Zellen und Waben beschäftigt. Auch die Waben selbst wurden vergrößert. Bald erwies sich die Höhle als zu klein. Eine zweite Schar von Arbeiterinnen begann darum, die Höhle zu erweitern. Die losgerissenen Erdkrümelchen trugen sie zur Wiese empor, flogen mit ihnen davon und ließen sie erst in gehöriger Entfernung fallen. So verriet kein Erdhaufen den unterirdischen Bau. Ein hemmender Wurzelstrunk wurde in Tausenden von Arbeits­stunden zernagt. Größere Steine, die nicht zu bewältigen waren, wurden im Grund der Höhle versenkt oder einfach in die Nestwand mit eingebaut. Das faustgroße Erdloch, das Vespa vorfand, nahm bald die Größe einer stattlichen Kokosnuß an.

        Und was das Wunderbarste war: jede Wespe wußte genau, wo sie ihre beißenden, grabenden und schürfenden Kiefer anzusetzen hatte. Sinnvoll reihten sie die vielen kleinen Einzelleistungen aneinander und förderten das gemeinsame Werk. Und es war kein Aufseher, kein Antreiber und kein Ordner nötig. Es gab keinen Zank und Streit, keine Zweifel und keine Drückebergerei. Wie in einer großen und gutgeleiteten Fabrik griffen abertausend Hände ineinander. Und jeder einzelne Arbeiter fühlte es tief, wie wichtig das winzige Teilchen Arbeit war, das er leistete. Genau so sinn­voll und wunderbar ging die Arbeit an der ständig mitwachsenden Schutzhülle, an dem großen Glockenmantel vor sich. Hunderte von Wespen schafften hier, kamen und gingen und setzten den Bau­stoff genau dort an, wo die anderen aufgehört hatten. Wir müssen uns nur einmal die winzigen Kügelchen Holzbrei, die eine Wespe zwischen den Kiefern herbeitragen kann, vorstellen. Dann erst können wir ermessen, aus wieviel unzähligen Einzelstücken diese geschuppte Hülle zusammengesetzt ist. Und wir können uns das ganze Geschehen nur so erklären, daß eben jede einzelne Wespe den Bauplan in sich trägt, um alle seine Einzelheiten weiß, und daß ihr ein Abweichen von diesem Plan gar nicht möglich ist.

        Ende Juni war Vespas Reich bereits einige tausend Seelen stark. Es umfaßte sieben große Waben mit reichlich dreitausend Zellen. Die Aufhängevorrichtungen und die Tragesäulen waren durch ein Gewirr von Leisten und Streben verstärkt worden. Größere Zellen für die Aufzucht von Männchen und Weibchen standen bereit. Die Späher, Sammler und Jäger des Staates beherrschten einen Um­kreis von etlichen Kilometern. Auch das Dorf, die nahe Kleinstadt und den Badestrand hatten sie in ihr Jagdgebiet mit einbezogen. Sie erschienen auf den gedeckten Kaffeetischen der Menschen, um sich auf die Sirupgläser und Marmeladentöpfchen zu stürzen. Sie setzten sich auf den Rand des Limonadenglases und auf den Zucker­satz in der Tasse. Und überall, wie in der gesamten Insektenwelt, riefen sie auch bei den Menschen achtungsvolle Bestürzung hervor. Wehe dem, der sie nicht gewähren lassen wollte! Ihr hohes und drohendes Gesumm, ihre Bereitschaft, schnell den Giftstachel zu gebrauchen, und ihr gefährlicher Jähzorn ließen ängstliche Menschen sich sogar vor ihnen fürchten.

        Vespa, die getigerte Königin, konnte zufrieden sein. Der Sinn ihres Lebens hatte sich erfüllt. Ihr Reich wuchs, blühte und ge­dieh und war ein leuchtendes Beispiel dafür, was unverdrossener Fleiß und große Ausdauer, Mut und Kühnheit, und natürlich auch ein wenig Glück noch immer zuwege bringen. Ihr Volk schaffte und wirkte, als sollte es für alle Zeit und Ewigkeit bestehen. Wenn dem aber so wäre, dann würde die Welt in kürzester Zeit tatsächlich nur den kriegerischen Wespen gehören. Und darum bestimmt es das große ausgleichende Gesetz der Natur, daß jedes Wespenreich nur von einjähriger Dauer ist. Durch dieses unerbittliche Gesetz wahrt die Natur die Ordnung innerhalb ihres wunderbaren Haus­haltes.

        Und so werden auch von Vespa, ihrem Volk und ihrem Reich im kommenden Jahre nur noch einige Fetzen graues Papier und einige Häuflein Staub in einer schnell in sich zusammenfallenden Erdhöhle zeugen.

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